Zwangsarbeit in Viersen
Überregionales
Über 12 Millionen Menschen leisteten im Verlauf des Zweiten Weltkriegs in Deutschland Zwangsarbeit.
Allein im Sommer 1944 arbeiteten neben sechs Millionen zivilen Arbeitskräften auch zwei Millionen Kriegsgefangene und über eine halbe Million KZ-Häftlinge im Deutschen Reich.
Auch in den besetzten Gebieten wurden Millionen Männer, Frauen und Kinder zur Arbeit für den Feind gezwungen.
Nur die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter hielten landwirtschaftliche Versorgung und Rüstungsproduktion aufrecht.
Die Industrie profitierte von der Ausweitung der Produktion, deutsche Beschäftigte stiegen in Vorarbeiter-Stellen auf.
Das nationalsozialistische Deutschland schuf eines der größten Zwangsarbeits-Systeme der Geschichte: Über zwanzig Millionen ausländische Zivilarbeitskräfte, Konzentrationslager-Häftlinge und Kriegsgefangene aus allen besetzten Ländern mussten im Verlauf des Zweiten Weltkriegs für Deutschland arbeiten.
Auf dem Höhepunkt des "Ausländereinsatzes" im August 1944 arbeiteten sechs Millionen zivile Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter im Deutschen Reich, die meisten davon aus Polen und der Sowjetunion. Über ein Drittel waren Frauen, von denen manche gemeinsam mit ihren Kindern verschleppt wurden oder diese in den Lagern zur Welt brachten. Außerdem mussten 1944 fast zwei Millionen Kriegsgefangene in der deutschen Wirtschaft arbeiten. Ab 1943 griff die deutsche Industrie immer stärker auch auf Konzentrationslager-Häftlinge zu.
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Gedenkstein für Zwangsarbeiter auf den Viersener Friedhof
Zwangsarbeit in der Kriegswirtschaft
Alle überfallenen Länder wurden als Arbeitskräftereservoir für Deutschland genutzt. Anfängliche Anwerbungsversuche hatten geringen Erfolg; nach Tschechien und Polen wurden ab 1940 auch aus Westeuropa immer mehr Männer und Frauen – zum Teil in kompletten Jahrgängen – dienstverpflichtet. Die große Wende brachte aber das Jahr 1942, als das Deutsche Reich nach dem Scheitern der "Blitzkrieg"-Strategie auf die Kriegswirtschaft des "totalen Kriegs" umstellte.
Dies war angesichts der Einberufung fast aller deutschen Männer nur mit der massenhaften Ausbeutung ausländischer Arbeitskräfte durchzuführen. Sie bildeten mehr als ein Viertel, in manchen Werksabteilungen bis zu 60 % der Belegschaft. Nur mit ihnen wurde die Versorgung der Bevölkerung und die von Albert Speer als dem zuständigen Minister organisierte Rüstungsproduktion aufrechterhalten.
Großunternehmen wie auch kleine Handwerksbetriebe, Kommunen und Behörden, aber auch Bauern und private Haushalte forderten immer mehr ausländische Arbeitskräfte an und waren so mitverantwortlich für das System der Zwangsarbeit. Die Industrie profitierte von der dadurch möglichen starken Ausweitung der Produktion.
Die Lebensbedingungen der zwangsweise in Deutschland oder in den besetzten Gebieten für Deutschland arbeitenden Menschen waren je nach Nation, rechtlichem Status und Geschlecht unterschiedlich. Menschen aus der Sowjetunion (im NS-Jargon sogenannte "Ostarbeiter") und aus Polen waren durch diskriminierende Sondererlasse der Willkür der Gestapo und anderer polizeilicher Dienststellen wehrlos ausgeliefert. Sie durften ihre Lager oft nur zur Arbeit verlassen und mussten entsprechende Kennzeichen ("OST“, "P“) auf der Brust tragen.
Gestützt wurde diese rassistische Hierarchie des NS-Regimes durch die innerhalb der deutschen Bevölkerung weit verbreiteten antislawischen Vorurteile, die zu vielen zusätzlichen Beleidigungen, Denunziationen und Misshandlungen führten. Auch die nach dem Kriegsaustritt Italiens im Herbst 1943 als "Militärinternierte" nach Deutschland verschleppten Italiener wurden als angebliche Verräter miserabel behandelt. Erträglicher, aber dennoch entbehrungsreich und demütigend, war das Leben für westeuropäische oder der "nordischen Rasse" zugerechnete Facharbeiter und Ingenieure. Am schlimmsten war das Schicksal der Konzentrationslager-Häftlinge, vor allem der zur "Vernichtung durch Arbeit" vorgesehenen Jüdinnen, Juden, Sinti und Roma.
Ein System rassistisch-bürokratischer Repression und Kontrolle
Alle ausländischen Arbeitskräfte wurden durch einen rassistisch-bürokratischen Repressions- und Kontrollapparat aus Wehrmacht, Arbeitsamt, Werkschutz, Polizei und SS streng überwacht. Sie wurden in zugige Baracken oder in überfüllte Gaststätten und Festsäle eingepfercht. In den Lager- und Betriebskantinen wurden sie nur äußerst unzureichend verpflegt; ohne Lebensmittelmarken konnten sie von ihrem geringen Lohn nichts zu essen kaufen und litten ständig Hunger. Die wenigen nach der oft 12-stündigen Arbeitsschicht verbleibenden Stunden Freizeit nutzten sie zunächst, um ihr Überleben zu sichern. Sie versuchten auf dem Schwarzmarkt Brot zu erstehen oder putzten – gegen ein Mittagessen – für eine deutsche Familie. Damit konnten sich auch ärmere Deutsche ein Dienstmädchen oder einen Bauarbeiter ins Haus holen – wortwörtlich für ein Butterbrot.
Den Bombenangriffen waren die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter noch wehrloser ausgesetzt als die deutsche Bevölkerung, da sie meist keinen Zugang zu Schutzräumen hatten. Viele Frauen litten unter zusätzlichen Schikanen und Gewalttätigkeiten.
Trotz Repression, Denunziation, Orientierungslosigkeit und der verheerenden Lebensbedingungen in der besetzten und ausgeplünderten Heimat versuchten Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter immer wieder zu fliehen; auch gab es Ansätze zu Widerstand und Sabotage. Ohne juristische Einspruchsmöglichkeiten und allein schon bei Verdacht auf diese Delikte konnten sie im Extremfall in Konzentrationslager eingewiesen oder gar hingerichtet werden. Im Falle von "Bummelei" oder Arbeitsverweigerung drohten die berüchtigten Arbeitserziehungslager.
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Grabsteine für Zwangsarbeiter auf dem Viersener Friedhof
Nach der Befreiung
Das Ende des Zweiten Weltkriegs brachte Millionen versklavter und todesbedrohter Menschen die Befreiung. Nach ihrer Befreiung machten sich viele ehemalige Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter auf eigene Faust sofort auf den Heimweg; andere lebten als „Displaced Persons“ weiterhin in Lagern und warteten auf ihre Repatriierung oder Ausreise ins westliche Ausland. Für viele, insbesondere sowjetische Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter war der Leidensweg 1945 noch nicht zu Ende. Sie wurden in ihrer Heimat pauschal der Kollaboration mit den Deutschen verdächtigt; nicht wenige verschwanden in den stalinistischen Lagern. Die meisten leiden noch immer und besonders im Alter unter den psychischen und physischen Folgeschäden des „Totaleinsatzes“; in vielen osteuropäischen Ländern leben sie nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Gesellschaften am Rand des Existenzminimums. Die deutschen Regierungen und die von dem Sklaveneinsatz profitierenden Betriebe lehnten lange Zeit – von wenigen Ausnahmen abgesehen – jegliche Übernahme von Verantwortung für diese Opfer ab.
Zwangsarbeit wurde in zahlreichen Viersener Fabriken und nahezu allen Bauernhöfen sowie im und durch das Zuchthaus/das Gefängnis in Anrath verrichtet/vermittelt und Zwangsarbeiter in Schulen, Arbeitslagern oder Fabrikgebäuden untergebracht (Anzahl der Personen in Klammern), so z.B. bei Pfahl, Weyermann, Goeters (90 P.), Kaiser’s Kaffee, Viersener Spinnerei AG (265 P.), Pongs+Zahn (50 P.), Gaststätte Johannes Darius, Richard Meyer, Jacob Krebs, Konrad Eickes, Heinrich v. Gerven (Arbeitslager/Saal 200 P. + Kegelbahn 60 P.), Vereinigte Seidenwebereien AG (60 P.), Holz-Mühle (260 P.), Königsburg, Josefshaus (130 P.), Kath. Volksschule Ostwall (100 P.), Kath. Volksschule Dornbusch (80 P.), Konrad Eickes (200 P.), H.J.Nellen (80 P.), Lager im Gesellenhaus und in diversen Viersener Schulen (900 P.). Insgesamt wurden in Viersen mindestens 2.725 Zwangsarbeiter (ohne Bauernhöfe, ohne Zuchthaus/Gefängnis) eingesetzt. Zahlreiche ZwangsarbeiterInnen kamen zu Tode und wurden auf den hiesigen Friedhöfen nebeneinander begraben.
Unterlagen über die genaue Gesamtzahl an Zwangsarbeitern und deren Arbeitsstellen existieren für Viersen nicht (mehr). Die Fachliteratur befasste sich vorrangig mit Übergriffen seitens der 1945 befreiten ausländischen Arbeitssklaven als mit deren Vorgeschichte. Am 4.April brachten die Amerikaner alle Zwangsarbeiter geschlossen in der Festhalle unter. Als die Zustände dort unhaltbar wurden, ließen die Amerikaner am 18.April alle Häuser des Straßenkreuzes Sittarder Straße-Rahserstraße räumen und brachten die Zwangsarbeiter dort unter. In der Gaststätte Hommen wurde eine Großküche eingerichtet. Nach etwa 2 Wochen wurden alle unter amerikanischer Bewachung auf Sattelschleppern nach Köln-Wahn transportiert, wo sie in Baracken des ehemaligen deutschen Truppenübungsplatzes auf ihre Repatriierung warteten.
Weiterführende Literatur
Literatur zu Fremdarbeiter und Zwangsarbeit in den Heimatbüchern des Kreises Viersen:
Bösel, Tobias; Malinowski, Annette; Neuenhaus, Yvonne; Pins, Lennard; Wittmann, Konstantin, Ergebnisse des Projektkurses "Verfolgung und Widerstand im Nationalsozialismus im Raum Kempen/Krefeld" am Städtischen Gymnasium Thomaeum in Kempen (Schuljahr 2014/15). 1. Edelweißpiraten und katholische Jugend im NS-Staat, 2. "Euthanasie im Dritten Reich und die "Kinderfachabteilung" Waldniel, 3. Zwangsarbeit im Nationalsozialismus im Kreis Kempen-Krefeld, 3.1 Das Verhalten des NS-Staates gegenüber den Zivilarbeitern, 3.2 Zwangsarbeit in Kaldenkirchen während des 2. Weltkriegs, 3.3 Die Überwachung von Zwangsarbeitern durch die Gestapo, in: HBV 67 (2016), S. 380–398.
Marcus, Klaus, Der Tod im Lüsekamp. Die Standrechtliche Erschießung im Grenzwald der Gemeinde Niederkrüchten am 26. und 27. Dezember 1944, in: HBV 58 (2007), S. 202–221.
Peters, Ludger Der Einsatz von KZ-Häftlingen auf dem Fliegerhorst Venlo 1943/44, in: HBV 55 (2004), S. 208–218.
Rehm, Gerhard, Fremd- und Zwangsarbeiter im Gebiet des heutigen Kreises Viersen 1939–1945 eine Skizze, in: HBV 52 (2001), S. 207-224.
Schippkus, Reinhard, Marian Kurzawa und Gertrud G., zwei Opfer nationalsozialistischer Verfolgung in Kempen, in: HBV 55 (2004), S. 187–207.
Schippkus, Reinhard, Hinrichtungen von Polen bei Kempen in der Zeit des Zweiten Weltkriegs. in: HBV 56 (2005), S. 159–175.
Schippkus, Reinhard, Hinrichtung von fünf Ostarbeiterinnen bei Niederkrüchten im Oktober 1944, in: HBV 57 (2006), S. 145–162.
Schippkus, Reinhard, Freundschaft in dunklen Zeiten erwachsen - Erinnerungen an "Fremdarbeiter" in Schiefbahn, in: HBV 59 (2008), S. 247–251.
www.kreis-viersen.de/de/inhalt-47/fachbibliographie-nationalsozialismus-zum-heimatbuch-kreis-viersen/
Ergänzende Literatur siehe „Bibliografie“, z.B. Marcus, Klaus: Der große Krieg und die kleine Stadt, Seiten 98 und 362 bis 368